Zeit ist Geld … tatsächlich?
Vor Jahr und Tag / 13:
„Sehen Sie, ich habe Krebs. Die Ärzte machen mir nur wenig Hoffnung auf Heilung. Aber wissen Sie was? Mir ging es noch nie so gut wie heute.“ Mit diesen Worten eröffnete Claudine Eifler unser erstes Gespräch. Eigentlich liegt es in der Aufgabe des Coaches oder Therapeuten, den Kommunikationsfluss mit dem Klienten zu lenken, hier aber bot sich mir dazu erstmal keine Gelegenheit.
Die direkte und gleichzeitig fordernde Art machte mich für einen Moment sprachlos.
So liess ich sie erzählen. In Umrissen breitete sie ihre ganzen letzten 50 Jahre vor mir aus. Sie sprach von der Zurückweisung ihrer Eltern, dem frühen Tod ihres Bruders, dem Fremdgehen ihrer Partner etc. Das scheinbar düstere Lebensbild schmückte sie dabei gekonnt mit viel Ironie und Humor. So waren weder Groll noch Schuldzuweisungen aus ihrer Erzählung herauszuhören.
Warum sie denn eigentlich da sei, versuchte ich schliesslich das Gespräch in neue Bahnen zu lenken – vergebens. „Durch meine Krankheit habe ich so viel an Freundschaft, Anerkennung und Aufmerksamkeit erhalten, wie nie zuvor“, liess sie mich stattdessen wissen.
Dann endlich.
„Wissen Sie, ich habe viel Geld und möchte mich mit ihnen beraten, was psychologisch am Sinnvollsten wäre, es zu verteilen.“ Ich versuchte ihr zu erklären, dass Personen wie potentielle Erben, Treuhänder oder Freunde dafür die kompetenteren Ansprechpersonen wären, doch sie liess sich nicht davon abbringen, sich meine Meinung anhören zu wollen. Zugegeben, es war keine therapeutische Glanzstunde. Ich tauschte mich mit ihr aus und präsentierte Ideen, welche sie immer wieder sofort durch eigene Argumente verwarf. Das Gespräch dauerte zwei Stunden und meine persönliche Erkenntnis gipfelte in fünf Worten: „Schuster bleib bei deinen Leisten.“
Längst hatte sich die Dame verabschiedet und ich spürte, wie diese Sitzung in merkwürdiger Weise in mir nachklang. Ich setzte mich wieder auf das rote Sofa und versuchte die innere Unruhe zu ergründen. Wie immer stand auch hier die Frage im Raum, was das Ganze wohl mit mir zu tun hat…
Der Zusammenhang zwischen Geld und Zeit ging mir durch den Kopf. Sie hat das Geld, aber keine Zeit mehr. Was will uns die Gesellschaft mit der Binsenweisheit „Zeit ist Geld“, eigentlich vorgaukeln, überlegte ich. Würde dies stimmen, müsste es auch anders herum schlüssig sein, nämlich wer Geld hat, sollte folglich auch Zeit haben. Natürlich ein gewaltiger Trugschluss. In der Folge grübelte ich über meine Haltung bezüglich der Zeit und dem lieben Geld. Ich liess einige mehr oder weniger ruhmreiche Entscheidungen und Handlungen aus meinem Leben „Revue“ passieren.
„Ich habe weniger Geld aber mehr Zeit als sie.“
Tage später erwachte ich mit diesen Gedanken und ich bildete mir ein, die Sinnhaftigkeit ihres Besuches für mein eigenes Leben zu nutzen. Seit diesem Moment begann ich, mein Geld und meine symbolische Lebenszeit in Gedanken auf zwei Konten aufzuteilen. Das eine physisch real auf der Bank – da gibt es beispielsweise einen Betrag x zu verwalten. Darin eingeschlossen sind die Ängste, diesen bei Unachtsamkeit zu verlieren, oder durch unvorsichtige Börsentransaktionen zu verspielen.
Das andere Konto hingegen befindet sich in meinem Erlebnisschatz. Ich nenne es das Erfahrungskonto. Darauf verbucht sind jene Ereignisse, und bereichernden Momente, welche weder gestohlen noch abgebucht werden können. Im Gegensatz zum Geldkonto wächst dieses stetig und trägt dazu bei, die Freude im eigenen Leben, aber auch durch Grosszügigkeit im Umfeld zu vermehren.
Im Gegensatz zu Frau Eifler werde ich keine Millionen vererben, doch hat sich mein Erfahrungskonto in der Zwischenzeit verhundertfacht. Ich blicke dankbar zurück auf die Dinge, die ich dadurch in meinem Leben bewirke, und geniesse die Momente, wo es mir durch mein Handeln gelingt, Situationen und Ereignissen – allein oder geteilt mit anderen Menschen – eine unwiederbringliche Einzigartigkeit abzugewinnen.