Auf dem falschen Fuss erwischt

Vor Jahr und Tag / 15:

 

Auf Empfehlung würden sie gerne eine Sitzung buchen, liess mich Frau Gehrig vor zwei Wochen am Telefon wissen. “Komm, gib ihn mir”, Luca Gehrig hilft seiner Frau liebevoll aus dem Mantel, reicht ihn mir mit einem spitzbübischen Lächeln und setzt sich schliesslich neben sie. Vor der üblichen kleinen Einführung über meine Person und Arbeitsweise möchte ich wissen, wessen Empfehlung sie zu mir geführt hat. “Ein Freund aus Militärzeiten”, entgegne ich auf den mir genannten Namen und muss herzhaft lachen. Gregor war damals mit dreissig bereits dreimal geschieden und machte sich immer lustig über meine Tätigkeit.

 

Ich biete Getränke an, bedanke mich für das Vertrauen, schlage meine Beine übereinander, nehme Stift und Schreibblock zur Hand und signalisiere mit Blickkontakt meine Bereitschaft. “Wie kann ich sie unterstützen”, eröffne ich das Gespräch. “Eigentlich nirgendwo”, entgegnet Eliane. “Es ist nur so, in unserem Freundeskreis lassen sich gerade ziemlich viele Paare scheiden und da dachten Luca und ich, wir buchen einmal eine Sitzung bei Ihnen um uns quasi durchzuchecken.” Beide lachen, während ich etwas verunsichert nachfrage: “Also, Ihnen beiden geht es gut und Sie sind sozusagen nur prophylaktisch hier?”

 

“Vorbeugen ist besser als heilen, ich erlebe das jeden Tag in meiner Arztpraxis”, ergänzt Eliane.

 

In mir macht sich eine gewisse Hilflosigkeit breit. Ich bin es gewohnt mich mit Konflikten auseinanderzusetzen, Krisen zu analysieren, nicht erstaunlich also, dass mir für einen Augenblick die Worte fehlen.

 

Doch dann kombiniere ich. Was einer Beziehung in seiner negativen Form schadet, kann diese mit konstruktiven Aspekten stärken. Lucas Ausführungen lassen sich kurz zusammenfassen. Sie sind 18 Jahre verheiratet, haben zwei Kinder, Leo 12, Carla 14, beide Ehepartner sind beruflich stark ausgelastet. Eliane ergänzt: “Die Kinder stehen immer im Zentrum, geniessen aber nicht uneingeschränkte Priorität.” “Das bedeutet?”, frage ich nach.

“Damit wollen wir zum Ausdruck bringen, dass wir auch als Paar ein Leben haben und darauf achten, uns füreinander Zeitinseln zu schaffen.”

 

“Und wo glauben Sie, liegt Ihr Erfolgsgeheimnis?”

 

“In der Achtsamkeit des Alltags”, erklärt Luca. Während seinen Ausführungen schweift mein Blick hinüber auf den Mantel seiner Frau. Sie ergänzt: “Das ist das eine, Luca, aber ich glaube auch der Umstand, dass wir beide uns genügend Freiraum lassen, trägt dazu bei, die Beziehung lebendig zu gestalten. Und, ja, das gefällt dir ja nicht immer, wenn ich Unstimmigkeiten wahrnehme, etwas mir auf dem Magen liegt, dann konfrontierte ich es halt immer.”

 

“Ja, und das zeitnah”, ergänzt Luca und verzieht das Gesicht: “Manchmal schneller als ich es realisieren kann.” Wir lachen alle drei. Das weitere Gespräch erinnerte eigentlich mehr an ein vertrautes Zusammensein unter Freunden als an eine therapeutische Sitzung. Wir sprachen über die Notwendigkeit, wesentliche Aspekte wie Sexualität und Vertrauen zu thematisieren, die Arbeitsaufteilung im Alltag sinnvoll zu gestalten und so weiter.

 

Das einzige, was ich ihnen als neuen Ansatz mit auf den Weg geben konnte, war der Hinweis, sich in regelmässig definierten Abständen an immer demselben Ort über die nachstehenden Fragen* auszutauschen.

 

  • Habe ich mich in letzter Zeit verändert / wenn ja, woran erkennst Du das
  • Was magst Du im Augenblick besonders an mir
  • Wodurch spürst Du meine Gefühle zu Dir
  • Was hat uns in den letzten Monaten weitergebracht / was gehemmt
  • Wo setzen wir in den nächsten drei Monaten unsere Prioritäten / wo gilt es besonders achtsam zu sein

 

Die Begegnung mit den beiden empfand ich als tolle Bereicherung. Wie ich wenig später im Türrahmen stand, kam ich mir vor wie ein hilfloser Arzt, der den Patienten aus Verlegenheit noch eine Packung Taschentücher mit auf den Heimweg gegeben hat.

Und doch: meine Lektion habe ich gelernt.

 

Vielleicht sind es nicht nur Medien und Gesellschaft, die sich destruktiven Gedankenkonstrukten hingeben.

 

Ich werde den Eindruck nicht los, dass auch ich durch meine problemorientierte Haltung im Berufsalltag einen nicht unwesentlichen Beitrag dazu leiste. Kennen SIE das auch?

 

*aus dem Buch Life Balance / Kreuz Verlag Markus Marthaler

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