Wenn die Hypothek zur Hypothek wird
Vor Jahr und Tag / 2:
Alex Ehrsam wirkte blass. Vor ca. einem Jahr besuchte er mich zu einem unverbindlichen Erstgespräch. Danach hatte er mich dann und wann angerufen. Diesen Verlauf mit Klienten habe ich oft erlebt und er gründet vielfach darin, dass die Motivation sich bei mir zu melden nicht von der Person selber, sondern durch das Umfeld initiiert wurde. Es liegt auf der Hand, dass diese Form von Kontakten meist im Sande verläuft. Umso erstaunlicher war es, dass der Regionalleiter einer mittelgrossen Firma nun wieder hier auf dem Sofa sass.
„Ich fühle mich schon wieder erstaunlich fit, dafür, dass ich vor zwei Wochen nach dem dritten Herzinfarkt, einem kleineren wohlgemerkt, aus der Klinik entlassen worden bin“, eröffnete er das Gespräch.
In der Folge erzählte er mir vom massiven Zahlendruck, der auf ihm und seinen Kollegen lastet. Der Abschreiber, den der Patron Ende Jahr vornahm, brachte die Firma in die roten Zahlen. Auch die Herausforderung mit dem 7jährigen Sohn kam zur Sprache. Zudem sei seine Frau durch das Haus, den grossen Garten und das Neugeborene stark an der Belastungsgrenze, führte er weiter aus.
Manchmal kriege ich Gänsehaut, wenn ich Klienten über ihr Leben reden höre.
Mal ist es, weil ich mich in den Situationen wiederfinde, mal weil ich mir nur mit viel Fantasie vorstellen kann, wie man einen Alltag wie zum Beispiel den eben geschilderten, jahrein jahraus überleben kann. Bei Alex Ehrsam traf das zweite zu. Er gehörte zu jenen Menschen, welche bei der Suche nach Lösungsansätzen zu kreativem Verhalten neigen. Jedes von mir vorgeschlagene Thema zur Entspannung seiner Lebenssituation wurde mit einem: „Ja schon, aber“ … vom Tisch gewischt.
Es gehört zu meiner Lebenseinstellung, körperliche Symptome als Hinweise zu betrachten. Ähnlich der Öllampe im Wagen wirken sie auf den ersten Blick störend, aber in vielen Fällen kann man durch das Wahrnehmen des Signals und entsprechendes Handeln Schlimmeres verhindern. Als ich das Gespräch auf den dritten Herzinfarkt lenkte, unterbrach er mich und erklärte: „Es gibt im Moment für mich keine Option, in meinem Alltag etwas zu verändern, da ich die nächsten drei Jahre noch in der Verpflichtung mit einer grösseren Hypothekarsumme stehe. Da muss ich durch“. Anschliessend beteuerte er, wie wichtig es für die Familie ist, ein schönes Heim zu haben und die besondere Lage am See auch geniessen zu können.
Vieles im Leben ist eine Frage der Prioritäten.
Was aber ist es, dass es uns manchmal so schwerfällt, diese auch sinnreich zu setzen: Ist es der fehlende Mut, die Bequemlichkeit oder ganz einfach unser Anspruch, auf nichts zu verzichten und alles haben zu wollen?
„Herr Ehrsam, was glauben Sie, wenn in einigen Jahren Ihre Kinder die Wahl hätten: Eine Jugend ohne Vater, dafür in einem Haus am See wohnen – oder mit dem Vater, aber vielleicht dann in einer Vierzimmerwohnung – wofür würden sich die beiden Buben entscheiden?“ Ich habe auf diese letzte Frage keine Antwort erhalten und wenn ich ehrlich bin, auch nicht erwartet.
Erst im Nachhinein musste ich mir auch eingestehen, dass es viele Situationen in meinem Leben gegeben hat und noch heute gibt, wo auch ich mich in Alex Ehrsam wiederfinde.
Und SIE?