… was er bringen muss
Vor Jahr und Tag / 11:
„Ja, der bin ich“, antworte ich, wie die junge Dame im Flur fragend meinen Namen nennt. „Darf ich vorgehen?“ Scheu und etwas verunsichert folgt sie mir in den Raum.
Janine mag um die dreissig sein und ihr Äusseres zieht mich einen langen Moment in den Bann. Sie wirft ihre Haare nach hinten und setzt sich unaufgefordert hin. Das Zögerliche von vorhin ist auf einmal wie verflogen. Therapeuten sind auch nur Menschen und so ertappe ich mich beim Gedanken, es zu bedauern, die junge Dame nicht bei anderer Gelegenheit in einem Restaurant oder sonst wo kennengelernt zu haben. Ich frage zuerst, auf wessen Empfehlung sie mich aufsucht, doch sie ignoriert dies und fixiert mich mit ihren braunen Augen, während sie die Beine langsam übereinanderschlägt.
„Es ist echt einfach zum Verrückt werden, ich habe nun solange überlegt und mit mir gehadert, bis ich den Mut gefasst habe, mein Anliegen mit jemandem wie Ihnen zu besprechen. Vielleicht sind meine Freundinnen nicht ehrlich zu mir, aber ich verstehe es einfach nicht.“ Sie holt noch ein, zweimal aus, bis ich sie unterbreche und meine Neugier auf ihr Anliegen zu lenken versuche.
„Ein Freund, ich möchte einfach einen Freund, ist das so schwierig?“
Ich lehne mich im Sessel zurück, aus Überraschung und Erstaunen. „Ja, das kann ich tatsächlich nicht verstehen, warum sich kein Mann für Sie interessiert.“ Einen kurzen Moment lang habe ich meine Fassung verloren, glaube diese allerdings professionell zu überspielen und bitte Janine nach einigen belanglosen Sätzen, auf einem Blatt Papier quasi ein „Anforderungsprofil“ bezüglich ihrer vom Partner gewünschten Eigenschaften zu erstellen.
Dann geschieht etwas was ich bisher noch nie erlebt habe.
Wie eine Schülerin bei der Prüfung neigt sie sich konzentriert über das Papier und schreibt … und schreibt … und schreibt… Ich sitze einfach da und staune, als sie mir nach ca. 10 Minuten die drei vollgeschriebenen A4 Blätter überreicht. „Nicht, dass Männer nicht interessiert wären“, führt sie aus, „es sind einfach nicht die Richtigen“. Sie erzählt einige Beispiele aus ihrem Alltag und schildert unter anderem die Situation, wie sie mit einem „Probanden“ (Originalzitat) beim Abendessen sitzt und sie sich derart daran stört, wie dieser die Gabel in der Hand hält, dass sie noch am selben Abend entscheidet, diesen Mann nicht wieder treffen zu wollen. Während ich mir denke, dass ich nun doch froh bin, Janine nicht anderswo begegnet zu sein als hier in meiner Rolle als Coach, versuche ich gemeinsam mit ihr Hintergründe der Erwartungshaltungen zu erforschen.
Natürlich wirkt die Begebenheit mit dieser attraktiven jungen Frau übertrieben. Doch habe ich gerade bei Paaren immer wieder festgestellt, dass unausgesprochene Erwartungshaltungen oft in Enttäuschung und schleichender Ablehnung enden.
„Warum lädt sie mich nicht auch ein, vergisst er den Jahrestag, kriege ich nicht mehr Blumen, wird die eigene Leistung zu wenig gewürdigt”, etc. Haben wir uns nicht alle schon im Alltag dabei ertappt, wenn Wünsche und Hoffnungen sich mit der persönlichen Erwartungshaltung verbünden und uns am Ende nur die Enttäuschung bleibt?
Gerade darin liegt viel Potential für Spannungsaspekte in zwischenmenschlichen Begegnungen.
Ist es nicht auch legitim, wo Menschen eine Gemeinsamkeit teilen, Wünsche und Vorstellungen zu klären? Schwierig wird es aber immer dann, wenn Erwartungshaltungen vorgeschoben werden, um sich dadurch eine plausible Erklärung zu verschaffen, sich mit einem spezifischen Thema nicht einlassen zu müssen. So ist es im Nachhinein nicht von der Hand zu weisen, dass Janine ihre Angst vor Nähe und Verletzung durch eine übersteigerte Erwartungshaltung an die Männerwelt legitimiert hat.
Und wie ist es bei IHNEN? Wie viel Aufmerksamkeit richten SIE auf berechtige Erwartungshaltungen die Sie selber oder das Umfeld zu erfüllen haben…
Sind doch nicht solche lange Listen von Anforderungen eine Krankheit der jetzigen Zeit welche die Ursache
in einer übertriebenen Fokusierung auf dem ICH hat? Nehmen wir uns da eventuell zuviel Freiheit, sind wir
doch zuwenig kompromissbereit?
Ich arbeite seit sieben Jahren für ein grosses Unternehmen. Ich habe viele Leute kommen und gehen sehen.
Wenn sie sich bewerben, präsentieren sie uns eine Liste der Dinge welche sie besonders gut können, sie scheinen
ins Arbeitsprofil zu passen und werden angestellt. Nach kurzer Zeit stellen sie fest, dass nicht alles Gold ist was
glänzt. Die Präsentationsliste war ohnehin aufgeblasen. Es ist schon klar, dass man nicht immer alles wissen oder überprüfen kann.
Dann passiert Folgendes. Zuerst wollen die Neuangestellten alles auf den Kopf stellen. Sie wollen alles auf ihre Art und Weise machen,
auch hier eine Liste. Später stellen sie fest, dass es nicht besser ist, einfach anders. Aus der Leitungssicht ist es egal, sie wollen
Erfolge und wenn sie ausbleiben, trifft die Leitung Massnahmen welche zum Projektabbruch oder sogar Entlassungen führen können.
Die Arbeitnehmer sind dann konsterniert, demotiviert und verstehen es nicht mehr.
Wäre es nicht um einiges einfacher, wenn man nicht immer so Listen von Anforderungen stellen würde in der Form von “ich denke”
sondern in jedem Moment sich selbst und die Sache überprüft, fragend was kann ich jetzt geben oder besser machen, ohne alles auf den Kopf zu stellen
oder eine Struktur oder Menschen ändern zu wollen. Woher entspringen die Anforderungen die wir stellen? Meinen wir etwa, dass es uns damit
besser gehen wird? Dass wir uns eine Art zuhause bilden wo wir uns dann wohl fühlen? Ist das Ego doch im Spiel? Oder, dass der Partner besser
zu mir passt weil er so nach meinem Gusto ist? Und was ist wenn dieser Fall nie eintrifft?
Man sollte bedenken, dass alles in Bewegung ist, auch unsere Entwicklung. Die Anforderungen von heute können ganz anders sein als die von morgen
und damit wäre dann die nächste Liste fällig. So kann man doch nicht leben! In verschiedenen Bereichen wird von der bedingungslosen Liebe
gesprochen und für mich hat es etwas damit zu tun. Aus meiner Sicht, man muss die Bereitschaft haben egal was man tut, bedingungslos zu machen,
ob Arbeit oder Liebe, spielt keine Rolle. Wenn alle Parteien dies machen, dann fliesst die Kommunikation und es entsteht Toleranz, Respekt
und erst recht gibt es Raum für das ICH, ein natürlicher Raum welcher nicht mit dem Hammer geschaffen wird. Denn Bedingungslosigkeit bedeutet
nicht dumm zu sein, unterwürfig oder sich selbst verneinen, sondern nur die eigenen Interessen sofern nötig, der Gemeinschaft unterordnen. Man überlegt sich
dann gemeinsam und nicht allein, was besser für uns oder für die Firma ist.
Ich habe letzten Endes gelernt, dass Erwartungen nur enttäuscht werden können. Es ist besser zu geben und sich freuen wenn was zurückkommt.
Wie heisst es doch so schön: geben ist seliger denn nehmen.