Nachsitzen nicht erwünscht!
Vor Jahr und Tag / 16:
„Sehen Sie, vor einigen Jahren hat es meine Tochter verpasst, sich auf eine Geographie-Prüfung vorzubereiten. Als Vater liess ich mich damals das erste und einzige Mal erweichen und akzeptierte, dass sie den besagten Morgen die Schule schwänzte. Doch wissen Sie, was zwei Wochen später geschehen ist? Frau Granelli, ihre Lehrerin, hat sie während der Deutschstunde an einen separaten Tisch gesetzt und sie musste in dieser Zeit die Prüfung nachschreiben.“
Danielle Ducret, die 28 jährige Klientin, schaute mich fragend an.
„Ja, und was wollen Sie mir damit sagen?“
Ich wusste, dass sie aktuell nicht so gut auf mich zu sprechen war. In den letzten 5 Sitzungen hatten wir uns, ohne nennenswerte Fortschritte oder auch Einsicht, um dasselbe Thema gedreht. Seit dem Abschluss ihrer Bachelor Arbeit vor drei Jahren hatte sie zwischenzeitlich an nicht weniger als 6 Arbeitsstellen ihr Glück versucht. Mal störte sie der Vorgesetzte, dann der Arbeitsweg, fehlende Kompetenzen – eben Punkte, welche nicht ihren Vorstellungen entsprachen.
„Ich wollte Ihnen mit der Geschichte meiner Tochter zum Ausdruck bringen, dass unser Leben nicht immer unseren Wünschen, nach dem Weg des geringsten Widerstands gehorcht.“
„Ich verstehe noch immer nicht“, antwortete sie trotzig.
„Sehen Sie“, sagte ich, und formulierte behutsam: „Meine Tochter hat sich nicht darauf eingelassen, für die Prüfung zu lernen. Doch so einfach ist das Schulsystem nicht auszutricksen, also musste sie diese nachholen, verstehen Sie?
Könnte es nicht sein, dass unser aller Leben nach ähnlichen Gesichtspunkten funktioniert? Man schwänzt, symbolisch gesprochen, permanent die Schule und meidet jede Verbindlichkeit einer anstehenden Prüfung. Das ist der Grund, warum wir alle immer wieder aufs Neue Situationen antreffen, die uns unangenehm sind.“
Sie starrte mich an, während ich weiter redete.
„Bleiben Sie doch einfach einmal an einer schwierigen Situation dran, reflektieren Sie Ihre Vorstellungen und Erwartungen und bringen Sie diese in einen konkreten Bezug zur Realität, dann kann es Ihnen gelingen, sich an der Landkarte des Lebens besser zu orientieren.“
Ich liess meiner Ungeduld freien Lauf. Das war bereits zuviel. Ich hatte mich mit einem konkreten Rat zu weit aus dem Fenster gelehnt. Sie erwartete für den Preis der Sitzungen Zuspruch und Bestätigung für ihre Situation. So stornierte sie den Termin der nächsten Woche und es gab kein Wiedersehen.
Bei den anderen ist es immer einfacher, bei verschiedenen Ereignissen einen gemeinsamen Nenner zu erkennen.
Einzig bei uns selbst haben wir den blinden Fleck, da sind wir tolerant.
Wie sehr möchten wir in solch unangenehmen, sich wiederholenden Situationen die Granellis dieser Welt auf den Mond schiessen! Erst im Nachhinein wird oft klar, dass gerade sie es waren, welche durch diese Form einfordernder Verbindlichkeit unser Leben auf eine wertvolle Weise bereichert haben…
Lieber Herr Marthaler – Sie sprechen mir aus der Seele! Ich musste jedoch in meinem Leben mehrmals wirklich schmerzhafte Erfahrungen machen, bevor ich bereit war, zu erkennen, dass es eigentlich immer um dasselbe ging. Erst als ich ehrlich genug war, mir einzugestehen, dass es immer etwas mit mir zu tun hatte, konnte ich das wirkliche Problem anpacken und etwas ändern. Wie Sie sagen, bei den anderen ist es leichter, die Fehler zu sehen!
Liebe Frau Sieber
Herzlichen Dank für ihren Kommentar. Da bleibt mir eigentlich nur noch eine kleine Ergänzung anzubringen. Wie Sie betonen ist es immer leichter, die Fehler bei den anderen zu sehen, wo doch gerade im „Fehlenden“ das Potential liegt, sich dem Ganzen zu nähern. Liebe Grüsse Markus Marthaler
Meine Grossmutter hat mir jeweils das Essen, das ich nicht gemocht hatte und deswegen nicht aufass, am nächsten Tag wieder hingestellt. Bei meinem Bruder hat sich das so einmal über vier Tage hingezogen. Natürlich wurde es immer schlimmer und war am Schluss kaum mehr zu geniessen. Auch wenn solche Erziehungsmethoden fragwürdig sind, irgendwie hat mich Ihre Geschichte daran erinnert…Dann ist es das kleinere Übel, gleich am Anfang den Frosch zu schlucken als es zu verschieben und immer grösser werden zu lassen.
Lieber Herr Waser
Ich danke Ihnen für Ihren Beitrag, den ich mit einem Schmunzeln gelesen habe. Wenn auch das Prinzip des Lebens wohl nach ähnlichen Regeln funktioniert, wäre dies heute aus erzieherischer Sicht wohl ein familiärer Eklat! Vielleicht hat es Ihnen insofern geholfen, dass Ihnen heute weniger auf dem Magen liegt 🙂 Liebe Grüsse Markus Marthaler
Manchmal ist es einfach schwierig, zu erkennen, dass in den verschiedenen Problemen, die einem das Leben präsentiert, derselbe Kern steckt.
Irgendwann habe ich gemerkt, dass ich nicht mehr den anderen die Schuld an meinem Steckenbleiben zuschieben kann.
Ich habe es auch bei mir festgestellt, immer wieder dieselben Lektionen, manchmal glaube ich, dass ich an mir gar nicht selber vorbeikomme…
Liebe Frau Pulcher
Ich danke Ihnen für Ihre Zeilen. Sie sprechen mir aus der Seele und ich grüsse Sie herzlich,
Markus Marthaler