…und es war Liebe?
Vor Jahr und Tag / 21:
Ich war ungefähr 19 Jahre alt als mir meine damalige Freundin gestand, dass sie ohne mich im Leben nicht mehr sein kann. Noch heute kann ich mich an die Wirkung dieser Worte erinnern und obschon damals in Liebesdingen völlig unerfahren, spürte ich instinktiv, da läuft etwas falsch…
Dieses Bild tauchte in mir auf, als Leandra mit tränenüberströmtem Gesicht bei mir auf dem Sofa sass. Nach 18 Jahren Ehe hatte sie eine Woche zuvor die Scheidung eingereicht und ihren Mann auch räumlich verlassen. Die 43jährige Frau, beruflich erfolgreich, drückt sich gewählt und überaus reflektierend aus. „Es geht nicht darum die Schuld beim einen oder anderen zu suchen“, begann sie das Gespräch. „Bis dass der Tod euch scheidet war für mich schon bei der Hochzeit eine Drohung – und wer weiss schon, wie man sich im Laufe der Zeit in einer Ehe entwickelt…“ Ihre Ausführungen wirkten dezidiert und absolut nachvollziehbar. Sie erzählte, wie das unachtsame Leben des Alltags schleichend ihre Bande löste, führte aus, wie das Negieren persönlicher Entwicklungsschritte gegenseitige Verunsicherung auslöste. „Dann, eines Tages ging es einfach nicht mehr. Kein anderer Mann, kein egozentrischer Psychotrip, wie es mir mein Mann stets einzureden versuchte, einfach die Vorstellung noch dreissig Jahre so zu leben, löste in mir Panik aus. Als ich darüber sprechen wollte, wurde mir klar, wie weit wir uns bereits voneinander entfernt hatten.“
Sie hielt inne. Tränen rannen ihr über das Gesicht. Wir schwiegen beide.
„Ich bin so traurig“, flüsterte sie schliesslich. “Er gab vor mich zu lieben, wollte nicht mehr ohne mich sein und als er keinen Weg mehr sah die Trennung zu vermeiden…“ Erneut schwieg sie und wischte sich die Tränen ab. „Er hat nichts ausgelassen, mich in meinem Freundeskreis schlecht zu machen, mich als eine selbstsüchtige Tussi zu bezeichnen. In Mails klagte er meine Eltern an, was sie in meiner Erziehung alles falsch gemacht hätten. Seine Anwältin wollte er soweit beeinflussen, dass ich unter psychischen Problemen leide. Er versuchte Geld von unseren gemeinsamen Konten abzuzweigen.“
Das Weinen ging in ein Schluchzen über. „Ich, ich, komme damit nicht klar, dass man vorgibt einen Menschen zu lieben und kaum funktioniert er nicht mehr nach den eigenen Vorstellungen, versucht man ihn nach allen Regeln der Kunst zu verletzen. Das ist es, wissen Sie, der Gedanke daran, der Gedanke an die letzten 18 Jahre macht auf diese Weise auch die schönen Momente kaputt. Ist das denn wirklich jenes was man Liebe nennt?“
Wir schwiegen wieder.
Ein Stück Eigentum, Bedingungen, ging es mir durch den Kopf, ja genau, wie bei mir damals mit 19.
„Nein, ich glaube nicht, dass man jenes Liebe nennt, und auch Hilflosigkeit ist keine Entschuldigung dafür“, antwortete ich betroffen.
Ich wusste dass Leandra weniger eine Hilfestellung als vielmehr ein offenes Ohr suchte. So liess ich das Gesagte stehen. Die Wege sind manchmal unergründlich, wenn das Leben für uns entscheidet, einen Schritt zu tun. Unsere Freiheit liegt dann lediglich noch darin, ob wir diesen freiwillig tun oder wir gestossen werden müssen.
Ich glaube, es ist ein Teil unserer materialistischen Gesellschaft, dass wir uns dem Irrtum hingeben, auch den uns nahen Menschen besitzen zu wollen. Doch Beziehungen werden zu Zweckgemeinschaften, man teilt das Leben mit einem anderen statt es mit ihm zu verdoppeln.