… und er wird ihm immer ähnlicher!
Vor Jahr und Tag / 9:
Jolanda bat mich vor ca. einem Jahr telefonisch um einen Termin für eine Sitzung. Sie wisse nicht mehr weiter und werfe nun den Mann, diesen Idioten, vor die Tür. Ich zeigte mich damals über ihre Redewendung erstaunt und stellte in Frage, ob es zu diesem Zeitpunkt und unter diesen Umständen Sinn machte, eine Therapiesitzung abzuhalten. Aus meiner Erfahrung ist es immer wieder eine grosse Herausforderung, zu Menschen durchzudringen, welche in ihren eigenen destruktiven Denkmustern verfangen und dabei unkontrollierten Gefühlsausbrüchen ausgeliefert sind.
Heute nun sitzt sie da und erzählt ohne Umschweife und Hemmschwelle vom egoistischen Verhalten ihres Mannes, spart kaum mit verurteilenden Rückschlüssen und lässt jede Art von Selbstreflexion vermissen. Selbst nach diesen Monaten scheinen die Ereignisse noch derart präsent, als seien sie gestern geschehen. «Er hat gemacht was er wollte, mich immer kritisiert, was mich interessiert zog er ins Lächerliche, stets hat er noch etwas Korrigierendes beigefügt. Ich konnte seinem Frauenbild nicht genügen.» Während des Weinens setzt erneut eine Schimpftirade ein.
«Und das Schlimmste, Linus, unser vierjähriger Sohn, fängt jetzt auch schon an damit.
Vor einer Woche hat er mich angeschrien, mich blöde Kuh genannt und über das Abendessen genörgelt. Manchmal bleibt nichts anderes übrig, als mir mit einer Ohrfeige zu helfen…».
Sie schweigt. Bei mir tauchen Bilder auf. Ich sehe einen hilflosen Jungen, der nicht versteht warum der Vater nicht mehr da ist und die Mutter kein gutes Haar an ihm lässt. Ich versuche mich hineinzufühlen in ein Kind, welches der eigenen Unsicherheit ausgeliefert ist, und zusätzlich machtlos den Schmerz des anderen Elternteils ertragen muss. Mit stechendem Blick mustert sie mich, während ich mit sorgfältig gewählten Worten versuche, etwas Ruhe in die Situation zu bringen. –
Schwierig, wenn sie derart von Emotionen blockiert ist, sage ich zu mir als ich wenig später allein im Raum sitze und versuche, die eigene Unzufriedenheit über das Resultat des Gesprächs einer kritischen Prüfung zu unterziehen.
Ohne die Ereignisse in Jolandas Leben be- oder verurteilen zu wollen, es liegt in der Verantwortung der Eltern, in diesem Fall an ihr, Linus zu schützen.
Aus ihrer seelischen Verwurzelung heraus lieben die Kinder immer Vater und Mutter gleichermassen. Die Trennung führt in jedem Fall zu einem seelischen Spannungsaspekt. Wie weit dieser zu einer späteren Belastung führt, hängt im Wesentlichen davon ab, wie das Umfeld mit dieser Abspaltung umgeht. Dieser versucht Linus dadurch zu begegnen, dass er sein Verhalten aus Solidarität nach jenem des Vaters ausrichtet. Einerseits bleibt der Vater durch die Nachahmung seiner Eigenschaften in der Familie präsent, andererseits bestraft er unbewusst die Mutter, weil sie den Vater schlechtmacht.
Aussöhnung ist die grosse Kunst, wenn es darum geht, Kinder aus der Manipulationsspirale zu befreien. Die Voraussetzung dazu kann jeder Elternteil bieten, so er oder sie denn die Fähigkeiten von Reflexion und Erkenntnisfähigkeit in sich vereint.
Eine zutiefst berührende Geschichte Markus! – Erinnere mich gut, als meine Mutter mir als ca. 5-Jährigem an den Kopf warf «du bist genauso’n fieser Möpp wie dein Vater…», übersetzt aus dem Kölsch: widerlicher Mensch. Den Rest erahnst du. Es folgte ein «problematischer» Stiefvater inkl. 13-jährigem Krieg, bis ich Familie und Land für immer verliess. Habe inzwischen selber zwei Stiefsöhne ins Erwachsenenalter begleitet und hatte mir vorher lediglich vorgenommen die Fehler meiner Mutter und des Stiefvaters nicht zu wiederholen. Hat wunderbar geklappt. Wir sind eine unzertrennliche Gemeinschaft. Dabei steht Aussöhnung – nicht nur innerfamiliär – stets im Mittelpunkt.