Schachmatt!
Vor Jahr und Tag / 20:
Es war ja nicht so, dass ich den 55jährigen Konstantin Kretschmann nicht gemocht hätte. Ein Leben lang hat er sich aufgeopfert, wie er in seiner extravertierten Art gleich zu Beginn der ersten Therapiestunde erzählte. „Ich war da, wenn man mich am Sonntag in der Bude benötigte, unterstützte meine Frau wann immer sie meine Hilfe brauchte und auch im Gesangs- und Turnverein wussten sie, auf den Koni ist Verlass.“
Dann war es einen Augenblick still. Sein Oberkörper sackte in sich zusammen. Einen langen Moment später biss er sich auf die Oberlippe und startete seine Tirade. „Hätte der Juniorchef die Firma nicht verkauft, dann hätte ich meinen Job noch. Dieser neue, so ein typischer Deutscher natürlich, wollte ja nichts mit alten Säcken zu tun haben. Und wissen Sie was das Schlimmste ist? Meine Frau fand es absolut normal und meinte ich sei schon längst für diese Art von Arbeit ausgebrannt. Aber, wenn ich jeden Monat das Geld heimgebracht habe, da hat sich nichts gesagt, diese blöde…“
Der Klient erhob sich plötzlich und lief unruhig im Raum auf und ab.
„Scheisse, es ist alles einfach nur Scheisse.
Aber sie hat mir ja auch nichts gegönnt. Stellen Sie sich vor, sie hat mir abgeraten, als ich mich für die Gemeinderatswahlen aufgestellt habe. Ich würde es nur aus Geltungsdrang machen, erzählte sie unseren Kindern. Ja, richtig glücklich war sie, als die Idioten mich nicht gewählt haben. Eggimann vom Turnverein, dieser Kriecher hat mit seinen Intrigen hinter meinem Rücken doch noch Erfolg gehabt. Angst hatten sie, Angst vor Veränderungen. Glauben Sie mir, ich hätte da mal reinen Tisch gemacht.“
„Darf ich Sie bitten, sich wieder zu setzen“, bat ihn freundlich. Dann stand ich auf und trat an den Flip Chart. Längst war mir klar, dass er nicht auf Hilfe aus war sondern jemanden gesucht und gefunden hatte, dem er seine Opferrolle im Leben aufzeigen konnte. Ich zeichnete Kreise auf, einen für den neuen Geschäftsinhaber, dann die Bewohner der Gemeinde, seine Frau und schliesslich Eggimann. Dann malte ich ein Fragezeichen über das ganze Blatt. „Und jetzt?“ fragte ich ihn. “Zwei Dinge interessieren mich. Erstens: Haben Sie durch die zahlreichen Schuldzuweisungen aus der Vergangenheit bis auf den heutigen Tag auch nur das Kleinste zum Positiven verändern können und zweitens: Was glauben Sie, hat das Ganze mit Ihnen zu tun?”
Er trank mit amüsierter Miene einen Schluck Wasser, suchte nach seinem Taschentuch und schnäuzte sich.
„Sie glauben also, ich bin schuld an allem und deswegen soll ich das alles schlucken und zum zweiten nein, wenn das wirklich etwas mit mir zu tun haben sollte, müssen Sie mir das aber ganz genau, aber ganz genau erklären.“
Ja, respektive nein, ich konnte es nicht.
Jeder Ansatz wurde mit einem „ja aber“ im Keim erstickt und so verliess er emotional und höchst unzufrieden die Sitzung, während ich ratlos mit meinem Flip Chart Blatt zurück blieb.
Einverstanden, der Ausdruck der Schuld ist in den letzten Jahrhunderten durch die eine oder andere Institution arg in Mitleidenschaft gezogen worden. Doch sollte uns dies nicht daran hindern, das eigene Leben auf Verantwortung statt Schuldzuweisung aufzubauen. Veränderung ist damit nie zu erreichen und durch das Suchen von „Tätern“ beraubt man sich zudem der eigenen Energie.
Auf eine derartige Fixierung eines oberflächlichen, scheinbar ungerechten und zufallsgesteuerten Weltbildes von Koni hatte ich kein geeignetes Hilfsmittel. Meine Erfahrung ist es, dass eine derartige Haltung oft der Legitimation dient, sich im Leben nicht bewegen zu müssen. Ich glaube nämlich, dass das Leben nicht fragt, ob uns das Vorgesetzte passt oder nicht, vielmehr interessiert es sich dafür, wie wir mit dem Erlebten umgehen.
Es gelang mir nicht, den Klienten dort abzuholen wo er stand, weil es dort gar keinen Standpunkt gibt. Ich war Schachmatt und noch Stunden später ratlos.
Ja, wie erwähnt, eigentlich mochte ich ihn, diesen Konstantin Kretschmann, aber nein, ich glaube nicht, dass ich aus freien Stücken einen Abend mit ihm hätte verbringen wollen…
Ich gehe nicht davon aus, dass SIE solche Menschen kennen, wenn ja, … dann geht es Ihnen vielleicht in solchen oder ähnlichen Situationen auch so wie mir!