Ich kann nicht mehr…
Vor Jahr und Tag / 7:
…waren die ersten Worte von Frau Dubois, noch bevor sie sich hinsetzte. Tatsächlich wirkte die knapp 40jährige Frau erschöpft.
Ihre Geschichte ist rasch erzählt und in unserer Zeit nicht selten.
Sie ist verheiratet und hatte sich in den letzten Jahren intensiv um die drei gemeinsamen Kinder gekümmert, während sich die Eheleute als Paar mehr und mehr voneinander entfernt haben. Gegenseitige Schuldzuweisungen, kein ehrlicher Austausch erschwerten es dem Paar zunehmend zueinander zu finden. Sie beschwor die Rolle der perfekten Ehefrau und Mutter, die praktisch sorglos den Haushalt und die Kinder managt und nebenbei noch einen Kuchen in den Ofen schiebt. Doch kontinuierlich schwanden ihre Kräfte, durchwachte Nächte mit dem Jüngsten hatten ein Übriges beigetragen.
Auf die Frage wie ich sie denn unterstützen könne, zuckte sie mit den Schultern. Unschwer war zu erkennen, dass die Frau völlig erschöpft war und jeglichen Zugang zu den eigenen Ressourcen verloren hatte.
Es gehört zweifellos zu einer der grössten Herausforderungen in der heutigen Zeit, verschiedene Welten und Rollen in unserer Gesellschaft unter einen Hut zu bringen.
Zum Beispiel in der Partnerschaft: Fehlt die gegenseitige echte Begegnung, verliert die emotionale Bindung an Energie, zieht sich jeder auf seine eigene Kompensationsebene zurück. Dem Cliché entsprechend sucht sich der Mann die Bestätigung, die Freiheit aber auch den Einfluss in der Arbeit, während die Frau die emotionale Leere über die Beziehung zu den Kindern kompensiert. Ein solches Verhalten überfordert über kurz oder lang alle Beteiligten. Fehlt zudem die notwendige Bereitschaft zur Reflexion führt der meist schleichend einsetzende Prozess zu jenem Ausgang, den die dreifache Mutter aktuell durchlebt.
Aus dem sich entwickelnden, oft zusammenhanglos wirkenden Gespräch ging hervor, dass mindestens das Geld keinen zusätzlichen Stressfaktor darstellte. Zudem kann auch eine zeitweise Betreuung durch die Grosseltern sichergestellt werden. Nach etwas mehr als einer halben Stunde glaubte ich zu spüren, dass sich die Klientin langsam beruhigt hatte. Sie sprach leise und immer wieder im Satz innehaltend. Dann auf einmal kam diese Frage. Die Stimme wurde fordernd, sie fixierte mich und ich hatte augenblicklich das Gefühl, ihr für das Honorar nun eine fertige Lösung präsentieren zu müssen.
„Und nun …, was soll ich aus ihrer Sicht jetzt machen?“
Ohne zu überlegen schlug ich ihr vor, sich erstmal einige Tage in einem Wellnesshotel zu erholen um die Batterien wieder aufzuladen. Wie aus dem Nichts begann sie mich anzuschreien: „WAS FÄLLT IHNEN EIN, WIE VERANTWORTUNGSLOS SIND SIE EIGENTLICH, HABEN SIE KINDER, WIE KÖNNEN SIE MIR ALLEN ERNSTES SO ETWAS VORSCHLAGEN?“ Ihre Adern am Hals pulsierten. Der abrupte Stimmungswechsel schien sie selber zu überraschen, während ich einen Moment brauchte, um mich zu sammeln. Schliesslich fragte ich sie: „Frau Dubois, wenn ihre Kinder wählen könnten, einige Zeit bei ihren Grosseltern zu wohnen und dafür ein paar Tage später eine weniger gereizte und erschöpfte Mutter zu erleben, was glauben sie, wie würden sich ihre Kinder entscheiden? Was würden sie sich lieber wünschen?“
Daraufhin packte sie die Tempotücher und den Schlüssel in ihre Tasche, zahlte und verabschiedete sich abrupt.
Es ist oft zum Teil unserer Erziehung anzurechnen, dass wir das Gefühl haben, es allen recht machen zu müssen, alles von uns zu geben, uns zu verausgaben. Doch ist es nicht so, dass wir anderen Menschen nur jenes geben können, was wir selber haben? Wenn keine Fürsorge und Zeit für mich selbst übrigbleibt, wie soll ich dieses anderen weitergeben können? Wenn ich keine Ressourcen mehr zur Verfügung habe, wie soll ich diese anderen zukommen lassen?
Wann haben Sie sich das letzte Male etwas „GUTES“ getan?