Oma macht das schon!
Vor Jahr und Tag / 22:
Frau Johnson wirkte müde, dünn und angespannt. Sie nippte immer wieder am Glas, während sie ihre Geschichte erzählte. Schlaflos seien die Nächte, da das Enkelkind aktuell gerade die ersten Zähne kriegt. Im Laufe der Stunde liess sie durchblicken, dass ihr Pflichtgefühl, als Grossmutter da zu sein, sie an den Rand ihrer Kräfte bringt. „Aber die Familie Ihres Sohnes“, wandte ich ein, „gibt es da keine Möglichkeit…“, sie unterbrach mich. „Ach wissen Sie, Lukas ist beruflich stark eingespannt. Seit seine Frau dieses politische Mandat angenommen hat, bleibt ihnen ja auch nicht wirklich viel Zeit, sich um Leon zu kümmern. Zudem haben die Eltern meiner Schwiegertochter sich von Anfang an klar gegen regelmässiges Kinderhüten ausgesprochen.
„Was sagt denn Ihr Mann dazu“, wagte ich vorsichtig zu fragen. Wiederum nippte sie am Wasserglas. Verloren blickte sie aus dem Fenster. „Er sagt immer, dass Lukas zu unselbständig ist und sich auf die Umwelt, damit meint er natürlich sich auf mich, verlässt. Er kann mit Leon nicht viel anfangen, sagt immer später… später spielen wir dann zusammen.“
Ich suchte weiter nach Lösungsansätzen, stellte Fragen, hoffte auf eigenständige Überlegungen, doch Frau Johnson blieb ihrer Rolle als leidende Grossmutter treu. Als sie das Thema der Unselbständigkeit ihres Sohnes ebenfalls aufgriff, erlaubte ich mir sie zu fragen, ob ihr Verhalten denn dazu beitrage, die Selbständigkeit zu fördern.
„Ist es nicht so, dass wir unseren Kindern in einem gewissen Alter auch das eigene Erwachsensein zutrauen dürfen?“
„Wie meinen sie das, fragte sie erstaunt.“ In diplomatischen Formulierungen versuchte ich ihr aufzuzeigen, dass ihr Handeln wenig dazu beiträgt, dass das junge Paar auch die Verantwortung für die eigene Familie übernimmt.
Ich schweifte aus und erzählte von diesem eigenartigen Gesellschaftsphänomen, dass immer mehr Paare eine Familie gründen und dann alles daransetzen, ihr bisheriges Leben mehr oder weniger uneingeschränkt weiterführen zu können. Der Anspruch auf eigene Freiheit als eine Mischung von Mangel an Verantwortung und der selbstverständlichen Erwartungshaltung an das Umfeld nach Unterstützung.
Auf einmal griff Frau Johnson in ihre Handtasche, zog eine Dose heraus, öffnete diese und entnahm ihr zwei Tabletten. „Das hilft gegen die Anspannung, wissen Sie.“ Sie lächelte müde. Mir wurde schlagartig klar, dass die letzten Sätze an ihr vorbeigezogen waren, sie nicht bereit war, auch ihren Teil in der Geschichte zu reflektieren. Ist es nun der Egoismus des Sohnes, ihre eigene Angst zu enttäuschen, übersteigertes Pflichtgefühl oder die Befürchtung, einfach keine Anerkennung mehr zu erhalten?
Im Gegensatz zu ihrem Arzt konnte ich ihre körperlichen Symptome nicht lindern. Wie so oft in ähnlichen Situationen allerdings stellte ich mir auch hier die Frage, wie lange Frau Johnsons Leidensfähigkeit noch ausreicht und welche Mittel danach noch hilfreich sind…
Natürlich habe ich Frau Johnson nie mehr gesehen, wenn ich auch später erfahren habe, dass ihr Sohn es war, der mich bei ihr empfohlen hatte.
Ich hoffe, ich werde es einmal „besser“ machen. Wenn es mir vergönnt ist.
Die Geschichte hat gut dabei geholfen. Danke.