Du Blödian …
Vor Jahr und Tag / 12:
Samstag, später Nachmittag, in einem Lokal nahe dem Busbahnhof Zürich.
„Werner, Herrgott nochmal, du Blödian, warum hast Du nicht einfach angerufen?“ Der Mann hat sich soeben gegenüber der sichtlich wütenden Dame hingesetzt. Mit gesenktem Blick ist er dabei, den Reisekoffer neben sich an den Tisch zu schieben. „Ja, ich weiss, aber der Akku, ich dachte…“ „Einen Scheiss hast du gedacht, das ist es ja gerade. Nie kommt es dir in den Sinn mitzudenken. Und schau wie du da sitzt, wie ein Hanswurst. Seit zwei Stunden warten die Heimgartners auf uns, seit zwei Stunden … und anstatt, dass du wegen der Verspätung angerufen hättest…einfach nichts, kein Ton. Ich habe jetzt die Einladung abgesagt, aber wie stehe ich nun da bei denen…“ Die übergewichtige Frau schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch. „Bestell mir einen Kaffee, ich muss aufs Klo.“ Dann schiebt sie den Stuhl mit einem Ruck zurück, flucht vor sich hin und stampft in Richtung Toilette. Der Mann blickt scheu in meine Richtung und zuckt mit den Schultern, dann richtet er sich auf und versucht umständlich den Reissverschluss seiner Jacke nach unten zu ziehen.
Aufgrund derselben Ringe welche beide an den Fingern tragen, schliesse ich daraus, dass sie in welcher Form auch immer, in einer Beziehung stehen.
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Wann immer ich an diese Begebenheit zurück denke, zieht sich etwas in mir zusammen. Da haben sich irgendwann in der Vergangenheit zwei Menschen entschieden, einen Teil ihres Lebens gemeinsam zu verbringen. Es gab vielleicht eine Zeit, wo einem beim Gedanken an den anderen warm ums Herz wurde, Freude und Dankbarkeit das frische Glück begleitete. Und hier, bei diesen beiden, was ist davon übriggeblieben?
Im selben Rahmen wie „Liebe“ im Laufe der Dauer einer Beziehung wachsen kann, schwingt auch die Gefahr mit, dass sie schwindet. Vielleicht dadurch, dass der eine sich auf den anderen abstützt, dabei vergisst, das Eigene zu leben. Vielleicht weil man das Gegenüber für sein persönliches Wohlbefinden verantwortlich macht? Schleichend geraten beide dabei abwechselnd mal in die Rolle von Opfer, mal in die des Täters.
Aber nein, es war nicht diese Erkenntnis allein, die mich in jenem Augenblick betroffen machte. Es war die Art und Weise, wie die beiden miteinander umgegangen sind. Das Resultat aus Frustration, vielleicht Wut oder Feigheit? Ist das Leben nicht zu kurz, sich gegenseitig in einer solchen Haltung den Alltag zu vergiften? Wie oft habe ich in meiner therapeutischen Tätigkeit erlebt, dass gerade die Angst Gewohnheiten zu brechen, ungesunde Beziehungsmuster über Jahrzehnte erstarren liessen. Wie immer man es auch nennen will, hat das, was wir mitunter als Liebe bezeichnen, nicht verdient, sich auch in schwierigen Zeiten und Situationen respektvoll zu begegnen?
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Die Dame kommt zurück: „Und überhaupt, dir fällt auch nie was ein, warum hast du nicht einen Sitznachbarn gefragt, er soll dir das Handy leihen? Aber nein, das wäre ja schon wieder zu viel verlangt. Hast du Kaffee bestellt und daran gedacht… für mich mit kalter Milch …“.