Therapie im Zug
Vor Jahr und Tag / 6:
Ich befand mich auf dem Weg in meine Praxis. Da ich wie üblich knapp in der Zeit war, entschied ich mich gegen die Strassenbahn und wählte den Zug nach Oerlikon. Der Wagen war zur Hälfte gefüllt. Vor mir die beiden Männer zwischen fünfzig und sechzig. Jener mit dem karierten Hemd umschlang mit seinen Armen eine Einkaufstüte aus Jute, während der andere im Anzug seinen Aktenkoffer auf dem Schoss liegen hatte. Ununterbrochen klopfte er mit seinen beiden Daumen auf die Zahlenkombination und erzählte von seinem Arbeitstag.
Er war einer jener Fahrgäste die man immer wieder an solchen Orten antrifft.
Er plauderte als wäre er mit seinem Kollegen allein, ohne Punkt und Komma und bis in die hinterste Reihe hörbar. Nur wer die Kopfhörer benutzte, wurde davon verschont. Soziopathisches Verhalten fasziniert mich immer wieder. Diesen Menschen geht die gedankliche Möglichkeit sich zu blamieren völlig verloren. Manchmal wünschte ich mir auch eine Prise davon. Ohne Punkt und Komma redend, wechselte der Mann auf einmal mit einem kurzen Blick auf sein vis-à-vis das Thema.
„Weisst Du, ich lasse mich in zwei Jahren pensionieren. Ich habe jetzt mehr als dreissig Jahre in dieser Firma geschuftet, davon zehn Jahre Schicht. Meine Schwiegermutter ist im Frühjahr gestorben und da kann ich es mir leisten.
Weisst Du, ich möchte einmal im Leben auch etwas Wertvolles machen.
Eine Arbeit die der Allgemeinheit dient. Etwas wo Du am Abend weisst, dass du etwas Gutes und Nützliches gemacht hast. Weisst Du was ich meine?“ Sein Nachbar nickte anerkennend und brachte ein knappes „Ja, ja schon“, über die Lippen. „Ich habe an eine Freiwilligenarbeit in einem Hilfswerk gedacht. Menschen etwas geben, Rollstühle schieben oder was weiss ich was. Weisst Du, morgen bist Du tot und Du hast nicht genügend gegeben, nichts gemacht für das Gemeinwohl…“
Der Zug fuhr in den Bahnhof Oerlikon ein. Einen Augenblick überlegte ich, sitzen zu bleiben, einfach so, aus Neugier. Doch mein dichter Terminkalender liess es nicht zu. Es war seltsam. Die Art und Weise des Monologes erinnerte mich an eine Nummer in einem Kabarett, gleichzeitig berührte mich die Aussage des Unbekannten. Es machte mich irgendwie traurig. Wie muss es sein, Jahrzehnte einer Arbeit nachzugehen ohne darin jenen sinnstiftenden Inhalt zu erkennen, der einem auch etwas zurückgibt. War es das was er meinte? Sind nicht wir es, die darüber entscheiden in welcher (Wert-) Haltung wir unsere tägliche Arbeit verrichten?
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Doch da war noch etwas, das mich peinlich berührte.
Ich spürte, wie mein Berufsstolz sich weigerte, diesem Gefühl nachzugehen. Wenn auch nicht in diesem Wortlaut, so fühlte ich mich dazu gedrängt, auch einen kritischen Blick hinter meinen Alltag zu werfen. Zugegeben, ich fühlte mich dabei mehr als einmal ertappt. Das Leben ist zu kurz um klein zu sein, die grosse Kunst es lebenswert zu machen ist die Fähigkeit das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen. Ich arbeite daran, dass sich diese Erkenntnis eines Tages von meinem Kopf ins Herz bewegt.
– Ich bin dankbar, mich heute für den Zug entschieden zu haben … Fahren SIE auch dann und wann im Zug?
Berührend geschrieben, herzlichen Dank! Und zugleich ehrlich so selbst entlarvend, dass es den Leser betroffen macht, wie schnell und leicht mensch die “Entschuldigungen” über die Lippen gehen oder er sich wenigstens in Gedanken “erlaubt”, um genau jetzt gerade nicht das zu tun, was wirklich “dran” wäre. Beileibe nicht nur im Zug nach Oerlikon … 😉
Ich danke Ihnen für die “Blumen” …. ich fahre seither noch mehr Zug
Freundliche Grüsse
Markus Marthaler
«…die Fähigkeit das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen (…), …diese Erkenntnis eines Tages von meinem Kopf ins Herz bewegen». Das ist es lieber Markus. Bin völlig bei dir. Sollte man auf der Prioritätenliste desssen was man rasch anpacken sollte ganz nach oben stellen! Kompliment, gut gschrieben. PS Newsletter habe ich bereits vorgängig separat bestellt.
Danke, Ansgar! Ich übe täglich…