… ach hätte ich doch nur …
Vor Jahr und Tag / 18:
Rahel fühlte sich von mir missverstanden. Während der dritten Sitzung griff sie auf einmal zur Handtasche, suchte nach ihrem Geldbeutel, legte ihn mit beiden Händen auf den Tisch, beugte sich vor und zählte die Scheine heraus. Zugegeben, im ersten Moment war ich irritiert. Empfand sie meine letzte Schlussfolgerung als unsensibel, überheblich? Oder war sie zu sehr auf einen konkreten Ratschlag bedacht?
Die Geschichte begann einige Wochen zuvor. Ratlos sass die damals knapp vierzigjährige Frau in eleganter Kleidung vor mir. Während sie sprach, sah es immer so aus als würde sie den Kopf weit vor den Körper stellen, sodass die lange Perlenkette zu schwingen begann.
Aussichtslos ist es, seit Jahren in Therapie und doch seien die Bilder noch immer in ihrem Kopf, offenbarte sie mir.
Sie erzählte vom schwierigen Verhältnis mit ihrem Vater. Ein «Bub» hätte sie werden sollen sagte sie. So sei sie behandelt worden, weder Röcke noch Schminke, alles «mädchenhafte» ekelte ihn, den Patriarchen im Hause. Ihn, der in ihrer Jugend auch vor körperlicher Züchtigung nicht zurückschreckte, traf auf einmal der Schlag.
Wie es oft geschieht, plötzlich, mitten im blühenden Vorruhestand ereilte ihn die Lähmung. Als der Gesundheitszustand sich verschlechterte, wurde sie, die Tochter ans Sterbebett gerufen. Mühsam und anstrengend sei es gewesen, den Worten zu lauschen die er ihr zuflüsterte. Er hätte um Verzeihung und Vergebung gebeten, sie angefleht mit einem letzten Kuss in Frieden gehen zu können. «Doch ich bin standhaft geblieben», hart waren die Worte von Rahel, als sie mir eben diese Geschichte erzählte. «Nein, es ging nicht,» rechtfertigte sie sich immer wieder.
Der Vater starb, und mit jedem Tag danach begannen die Schuldgefühle der Tochter an ihrem Gewissen zu nagen.
Bereits vor unserem ersten Treffen hatte Rahel weit mehr als 100 Therapiestunden hinter sich. Das Bereuen schien sie aufzufressen und mich als Therapeuten in demselben Masse zu zermürben.
Nach der zweiten Sitzung verlangte sie meine «Absolution», was ich allerdings ablehnte. Wir sprachen über die Sinnlosigkeit von Reue, jener Emotion die sich nach dem «hätten und sollen» richtet und den Blick der Klarheit trübt. Der Blick zurück behindert den Schritt nach vorne, Vergangenheit lässt sich nicht korrigieren, Gegenwart allein besitzt die Kraft, Zukünftiges zu gestalten. Was im ersten Moment so logisch erscheint, liess Rahel nur bedingt gelten. Die prägenden Bilder hielten sie zurück, so argumentierte sie. Meinen Einwand auf die Möglichkeit der inneren Aussöhnung, des Akzeptierens was war, negierte sie wortlos.
Schade, bin ich doch bis auf den heutigen Tag der Überzeugung, dass Aussöhnen jenem Verdrängungsmechanismus entgegenwirkt, der uns so oft dazu zwingt, jene dunklen Momente im Leben immer und immer zu wiederholen.
Dann lagen sie da die Scheine. Rahel mit Tränen in den Augen. Ja, es war ganz offensichtlich zu viel, mein letzter Satz:
«Rahel, Sie haben zwei Möglichkeiten. Unveränderlich Vergangenes immer und immer wieder aufzukochen, sich in den Emotionen zu bemitleiden, erwarten dass andere Ihnen Ihre Bilder auslöschen oder aber: Sie sagen ja zu dem was ist, stehen dafür ein und übernehmen die Verantwortung. Dann, eines Tages, wenn auch Ihre Mutter in einer ähnlichen Situation ist, sind Sie vielleicht bereit, Erfahrenes als gelernten Prozess in Ihr Leben zu integrieren…
Als ich wieder allein in meinem Raum sass, fragte ich selbstkritisch ob ich etwas anders hätte formulieren sollen, doch ich blieb und bleibe bis heute dabei…