Wie entspannend die Bergwelt doch sein kann…
Er hat sich das nicht wirklich vorstellen können. Statt die wärmende Sonne Griechenlands zu geniessen, liegt Paradoxli nun am künstlich aufgeschütteten See inmitten der Bergidylle im Herzen der Schweiz.
Wider Erwarten fühlt es sich toll an. Für einmal kein Kampf um die Liegestühle, das Feilschen um den Esstisch direkt am Meer fällt auch weg. «Irgendwie ist es unglaublich entspannend», lässt er seine Frau wissen, die anerkennend nickt und eine Seite ihres Buches umblättert. Paradoxli schiebt sich die Sonnenbrille hoch in die Stirn. Gespannt verfolgt er die Wanderer, die sich im Zeitlupentempo weit über ihm, in einer Steinwüste, wie ein farbiger Schuppenwurm in Richtung Bergspitze bewegen.
«Wegen Corona hat es in diesem Jahr viel mehr Leute als sonst,» die ältere Dame sitzt auf einem Baststuhl leicht nach hinten versetzt. Einen Moment braucht Paradoxli, um zu realisieren, dass sie mit ihm spricht. Er dreht sich um, nickt bejahend mit dem Kopf und lächelt. «Ja, das habe ich mir auch gedacht», antwortet er. Vor lauter Angst, mit der Frau ein Gespräch führen zu müssen, wendet er sich ab und stellt sich schlafend.
«Ich möchte jetzt ungestört sein, die Stimmung geniessen und ankommen, ganz bei mir selbst», denkt er sich. «Nichts wollen, nichts müssen, tief durchatmen. Sooo schön.» Er vergisst die Wanderer, spürt die Sonnenstrahlen auf der Haut. Er schiebt die Brille wieder auf die Nasenwurzel und kann so unbemerkt die Augen wieder öffnen. Er schaut in dieses spezielle Blau, wie man es an wolkenfreien Tagen nur in den Bergen zu sehen bekommt. Der Lärm der improvisierten Bar weckt seine Aufmerksamkeit. Caipirinha haben sie da, erinnert er sich an die Aufschrift am Plakat. Er atmet durch, mindestens ein Getränk wie am Meer, sagt er sich und lächelt zufrieden.
Der Ton, die Distanz, kann das tatsächlich sein? Ja, es ist mein Handy, das klingelt. Paradoxli setzt sich auf, seine Frau schüttelt den Kopf, sagt aber nichts. Er findet kaum Zeit, sich zu ärgern und drückt auf die Taste.
Es ist sein Chef. Er hat ein Problem mit einem Termin, findet die Projektmappe nicht und bittet ihn, Paradoxli, um Hilfe bei einer Präsentation. Dieser steht auf, will die Umgebung durch sein Gespräch nicht stören und läuft in Richtung Ufer. Er erklärt, verneint, diskutiert. 10 Minuten später sitzt er wieder im Liegestuhl. Seine Frau sagt nichts. Das ärgert ihn noch mehr, denn er weiss es selbst. Das Gespräch beschäftigt ihn, weder sieht er hoch zum Himmel, noch verfolgt er den wandernden Wurm. Es fühlt sich wütend an.
«Ich bin entspannt und dann ist da dieser kleine rechteckige Wicht. Er katapultiert mich mit seinem Klingelton heraus aus der Bergwelt und jagt mich in Windeseile zurück an meinen Arbeitsplatz. Da drischt der Huber mit Problemen auf mich ein, die nichts, aber auch gar nichts mit dieser Bergwelt zu tun haben.» Er hält inne und muss lachen, lachen über sich selbst.
Es ist paradox: «Ja, ja wir alle sind frei, wir sind unabhängig, das war einmal». Er beisst sich auf die Unterlippe. «Aber Freiheit ist auch eine Frage der richtigen Entscheidung», geht es ihm durch den Kopf, «soeben war es die falsche.» Er flucht leise. «Gut, Melanie, ich habe es verstanden. Auch ein Caipi, ich brauch jetzt einen Drink.» Dann sucht er in seiner Tasche nach dem Geldbeutel und steht auf…